Organe der Rechtspflege – Organe der Revolution? „Linksanwälte“ im Lichte von APO und sozialrevolutionärem Terrorismus der späten 1960er- und 1970er-Jahre in der Bundesrepublik

Organe der Rechtspflege – Organe der Revolution? „Linksanwälte“ im Lichte von APO und sozialrevolutionärem Terrorismus der späten 1960er- und 1970er-Jahre in der Bundesrepublik

Organisatoren
Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Universität Mannheim
Ort
Mannheim
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
01.06.2022 - 03.06.2022
Von
Maximilian Spanier / Martin Utsch, Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Universität Mannheim;

Die Anwälte in Strafverfahren gegen die RAF – von öffentlicher Seite mitunter als „vermeintliche Schaltstelle des Terrorismus“1 wahrgenommen – bildeten nur die prominenteste Gruppe der so bezeichneten „Linksanwälte“, die seit den späten 1960er-Jahren Angeklagte des linken Spektrums vor Gericht verteidigten. Ihnen näherte sich die Konferenz aus verschiedenen Perspektiven an.

Einleitend stellte ANGELA BORGSTEDT (Mannheim) die Verhältnisse der „Linksanwälte“ in der Weimarer Republik und unter besonderer Berücksichtigung des „liberalen Südwestens“ vor. Sie skizzierte ihren fordernden Arbeitsalltag im gesellschaftlich eher linksfeindlichen Klima der jungen Republik. Insbesondere die Voreingenommenheit und selektive Blindheit der Justiz in politischen Prozessen spielten dabei eine Rolle. Im Anschluss betonte Borgstedt die Zäsur von 1933, die für viele linke Anwälte den Verlust von Arbeit und Exil bedeutete. Die überschaubare Remigration nach 1945 sei wiederum ein Hinweis darauf, dass die Wurzeln des Typus des „Linksanwalts“ der 1960er-Jahre eher im Auschwitzprozess und in die Justizgeschichte prägenden Persönlichkeiten wie Fritz Bauer zu suchen seien.

STEFAN REINECKE (Berlin) zeichnete die angespannte Situation der „Linksanwälte“ nach, marginalisiert sowohl in der juristischen Welt als auch in den linken Milieus. Von Politik, Justiz und Medien, aber auch von RAF-Gefangenen selbst in bestimmte Rollen verwiesen, hätten „Linksanwälte“ sich diese angeeignet und diese Rollen auch selbst definiert. Der ambivalente Charakter der Rolle der RAF-Anwälte habe sich auch in der verschwommenen Grenze zwischen aggressiv-engagierter Verteidigung und politischer Unterstützung ihrer Mandanten widergespiegelt.

Im Anschluss zeigte ROBERT WOLFF (Frankfurt am Main) die noch ausstehende Historisierung der Geburt eines neuen Typs des linken Strafverteidigers auf. Er unternahm den Versuch, blinde Flecken in der bestehenden Forschung sowie Hintergründe für ihre Existenz zu beleuchten. Besonders hob er den Einfluss der 68er und die davon ausgehenden Herausforderungen für die Nachzeichnung der Genese der „Linksanwälte“ hervor. Ferner betonte er die noch weitgehend verborgen gebliebene Dimension der Netzwerke und Kollektive sowie die Reaktionen und Maßnahmen der Verfassungsschutzbehörden gegen „Linksanwaltskollektive”.

Inwiefern der Radikalenbeschluss von 1972 Auswirkungen auf die juristische Ausbildung hatte und zukünftige „Linksanwälte“ verhinderte, untersuchte ALEXANDRA JAEGER (Hamburg). Der Beschluss, der ein staatliches Überprüfungsverfahren im öffentlichen Dienst etablierte, habe ein weitaus größeres Spektrum an Personen betroffen als nur angehende „Linksanwälte“, deren Fokus nicht zwangsläufig der Protest und die Öffentlichkeit im Gerichtssaal gewesen sei. In Hamburg seien kaum Anwälte verhindert worden, in anderen Bundesländern jedoch durchaus, wodurch eine Einschränkung der Meinungsfreiheit gedroht und der Ausbildungsvertrag eine diskriminierende Wirkung entfaltet habe. Der Radikalenbeschluss habe tatsächlich vorübergehend die Ausbildung von „Linksanwälte“ verhindert, in Hamburg sei diese jedoch auch weiterhin weitestgehend möglich gewesen.

Das Oldenburger Buback-Verfahren gegen die Herausgeber des Mescalero-Textes diente MATTHIAS JAHN (Frankfurt am Main) und SASCHA ZIEMANN (Hannover) als Beispiel zur Beantwortung der Forschungsfrage, ob es legitim sei, wenn Strafverteidiger im Sinne einer „sozialen Gegenmacht“ und als Antithese zur Vorstellung vom Anwalt als Organ der Rechtspflege gesellschaftliche Zwecke zu erreichen suchen. Dies sei nicht der Fall, vielmehr bestehe hier die Gefahr, den Prozess zu Ungunsten des jeweiligen Mandanten und seiner Individualinteressen zu führen. Das Gesetz schreibe zudem vor, dass sich nur der Beschuldigte, und nicht etwa eine bestimmte soziale Bewegung, des Rechtsbeistandes bedienen dürfe.

KEVIN LENK (Münster) zeigte mit Blick auf die Mobilisierung der radikalen Linken in den 1970er-Jahren die prekäre Position der „Linksanwälte“ innerhalb der radikalen Milieus der Bundesrepublik. Zu einem Balanceakt zwischen beruflicher Tätigkeit und politischem Engagement gezwungen, sei ihre Position innerhalb der Linken hauptsächlich von ihren Erfolgen in der Schaffung einer Gegenöffentlichkeit begründet. Im Rahmen der konfliktreichen Dynamiken und Machtverhältnisse des Milieus hätten „Linksanwälte“ aber auch zur Kanalisierung der Debatten und Homogenisierung der Kommunikation beigetragen. Wenn „Linksanwälte“ für ihren juristischen Einsatz geschätzt wurden, wurde dieser auch zu einer Quelle von Spannungen, als dieselben juristischen Methoden zur Durchsetzung innerhalb der linken Milieus eingesetzt wurden. Lenk skizzierte den Zweifrontenkrieg, den Klaus Croissant als Ulrike Meinhofs Nachlassverwalter zur Kontrolle ihres publizistischen Nachlebens führte. Er sollte sowohl dem staatlichen Narrativ eines Verzweiflungssuizids entgegenwirken als auch alternative Deutungen Meinhofs im linken Milieu unterbinden.

Als Phänomen der langen 1970er-Jahre beleuchtete JONAS BROSIG (Mannheim) die „Linksanwälte“, indem er sie vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen im langen roten Krisenjahrzehnt einordnete. Vor allem die jugendbezogene Berichterstattung zeichnete ein Bedrohungsszenario, das zuvorderst im konservativen Milieu Wirkung entfaltete und das öffentliche Klima der 1970er-Jahre prägte. Erst die mediale Resonanz, die eine zahlenmäßig kleine Gruppe von Strafverteidigern in öffentlichkeitswirksamen Verfahren erzeugte, habe diese zu „Linksanwälten“ gemacht, einer Art verlängertem Arm der Protestbewegung sowie des linken Terrorismus vor Gericht, mit profunder Kenntnis der Strafprozessordnung.

GISELA DIEWALD-KERKMANN (Bielefeld) ging der Frage nach, inwiefern die Anwälte der RAF-Prozesse als Grenzgänger zwischen „Terror-Advokaten“ und „Garanten der Unschuldsvermutung“ bezeichnet werden können. Sie skizzierte die Anwälte im Spannungsfeld von medialen Zuschreibungen als „Anwälte des Terrors“, Verdächtigungen der Strafverfolgungsbehörden, öffentlicher Kritik der Politik und dem Druck ihrer Mandanten. Trotz des Umstandes, dass einzelne von ihnen den Weg in die Illegalität wählten, sei ein Generalverdacht gegen sie nicht haltbar, sondern Differenzierung angebracht. Während sich die Anwälte der RAF-Prozesse im Widerstreit mit den Organen des Staates und als Kämpfer für den justizförmigen Weg der Anklage sahen, sei durch die Verschärfung der Strafprozessordnung 1974 das Gleichgewicht derselben gestört gewesen.

ADRIAN HÄNNI (Zürich) behandelte am Beispiel des Schweizer Anwalts Bernard Rambert, genannt „der rote Beni“, die Transnationalität des sozialrevolutionären Terrorismus. Transnationalisierung an sich sollte im Rahmen der Propaganda-Strategie der RAF-Anwälte nationale Akteure unter Druck setzen. Politische Transnationalität wiederum lasse sich in zwei Dimensionen unterteilen: die Bildung von übernationalen politischen Netzwerken (Transnationalisierung) und die politischer Räume (Transnationalismus). Rambert sei als Mitbegründer des Anwaltskollektivs Zürich Teil des Internationalen Komitees zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa (IVK) und in dieser Position auch Schaltzentrale eines transnationalen Netzwerks gewesen, das IVK, linke italienische Anwaltschaft, das Komitee gegen Isolationshaft (KGI), Eco Libro und Rote Hilfe miteinander verband. Mit Hilfe dieser (RAF-)Unterstützergruppen sei die Transnationalisierungsstrategie der RAF-Anwälte, die unter anderem die Skandalisierung der Haftbedingungen ihrer Mandanten und die Diffamierung des „faschistischen“ Staates vorsah, vorangetrieben worden.

Am Beispiel des „Links-Referendars“ Rolf Pohle stellte DOMINIK AUFLEGER (München) dar, wie linke Solidarität in den langen 1970er-Jahren praktiziert wurde. Pohle stelle dafür ein gutes Beispiel dar, da er sowohl Solidarität geleistet als auch später selbst erfahren habe. Im Zuge der Anti-Schah-Proteste 1967 habe er beispielsweise iranische Kommilitonen dabei unterstützt, sich der Ausweisung durch das Land Bayern zu entziehen. Als Gründer der „Rechtshilfe der APO“ habe er Demonstrierende im Rahmen der sogenannten Osterunruhen 1968 mithilfe von juristischen Flugblättern über ihre Rechte informiert, sich selbst als Telefonkontakt für Inhaftierte angeboten und die Polizei auf die Rechte der Verhafteten aufmerksam gemacht. Als Unterstützer der RAF wurde er 1974 zu mehrjähriger Haft verurteilt und habe nun selbst Solidarität benötigt: Die „Rote Hilfe München“ habe ihm in dieser Zeit Briefe und Pakete geschickt und, wenn möglich, Besuche abgestattet.

ANDREAS MEHLICH (Nienburg) beleuchtete das Erbe der „Linksanwälte“ im Rechtsstaat und deren Einfluss auf die Berufsleitbilder der Rechtsanwaltschaft, zwischen deren Funktion als „Organ der Rechtspflege“ und Verteidiger der Interessen ihrer Mandanten. Nach einer historischen Perspektive, die den Kampf um die Freiheit der Advokatur sichtbar machte, skizzierte er das Berufsverständnis der „Linksanwälte“, das sich bis heute durchsetzen konnte. Mit einer Schwerpunktsetzung auf die Vertretung der Interessen der Mandanten strukturierten sie ihre Beziehungen sowohl zur Gesellschaft als auch zu den linken Milieus entsprechend. Ihr Berufsverständnis verwirklichte sich unter anderem durch die Ausnutzung der Regeln des Strafverfahrens und die herausfordernde Einbeziehung ihrer Mandanten in die Entwicklung der Verteidigungsstrategie.

Die Auseinandersetzung der deutschen Anwaltschaft mit der Herausforderung durch „politische Verteidiger“ zeigte FLORIAN JESSENSKY (Göttingen) anhand von Ehrengerichtsverfahren gegen Wahlverteidiger der RAF-Mitglieder auf. Es sei festzustellen, dass nicht erst die „politische Verteidigung“ in den RAF-Prozessen zu einer Debatte über das Selbstverständnis der Anwaltschaft geführt habe, diese sei vielmehr schon im Gange gewesen. Zudem sei ein differenzierterer Blick auf das Bild der damaligen Anwaltschaft als konservative Gemeinschaft, die die unliebsamen „Linksanwälte“ habe aussortieren wollen, nötig. Tiefgreifende Repressionen innerhalb des anwaltlichen Berufsstandes hätte die Ehrengerichtsbarkeit nämlich meistens nicht nach sich gezogen, stattdessen habe sich ein medienwirksames Mandat im Rahmen der RAF-Prozesse eher zum Vorteil der jeweiligen Anwälte ausgewirkt. Parallel dazu sei auch zunächst die agitatorische Auslegung der Ehrengerichtsverfahren seitens der betroffenen RAF-Anwälte abgelehnt, später jedoch öffentlichkeitswirksam als Repressalie unter Kollegen angeprangert worden.

JÖRG ARNOLD (Münster) ging der Frage nach, ob es einen „neuen“ Typus des Strafverteidigers in Kontinuität zu den „Linksanwälten“ der politischen Strafverfahren der 1960er- und 70er-Jahre gebe. Strafverteidigung sei dabei im Kern als Kombination von Staats- und Rechtskritik zu sehen. Das Berufsethos auf der Basis von Demokratie und Menschenrechten und im Sinne einer kritischen, kämpferischen Verteidigung habe sich, trotz gewandelter gesellschaftspolitischer und justizieller Voraussetzungen, in Kontinuität zu den „Linksanwälten“ bis heute gehalten.

Aufgrund ihrer interdisziplinären Vielfältigkeit leistete die Konferenz einen wichtigen Beitrag, den Komplex der „Linksanwälte“ stärker zu durchdringen. Insbesondere konnte die Notwendigkeit eines differenzierten Blicks auf die verschiedenen Spannungsverhältnisse, in denen sich die linke Anwaltschaft befand – zur staatlichen Justiz, den Medien, der bundesdeutschen Öffentlichkeit, ihren Mandanten, der Gesamt-Anwaltschaft sowie innerhalb transnationaler Verflechtungen – herausgearbeitet werden. Bestehende Denkmuster seien zu hinterfragen, auch die Wahrnehmung der „Linksanwälte“ als neuen Typus des Strafverteidigers.

Konferenzübersicht:

Eröffnung

Angela Borgstedt: (Mannheim): Verteidiger des Umsturzes? Verteidiger der Republik? „Linksanwälte“ in Weimar mit besonderer Berücksichtigung des „liberalen Südwestens“

Sektion 1: Der „Linksanwalt“ – ein neuer Typus des Strafverteidigers?

Moderation: Kevin Lenk (Münster)

Stefan Reinecke (Berlin): Szenen einer Eskalation. Die linken Rechtsanwälte nach 1967 im Spannungsfeld zwischen Instrumentalisierung und öffentlicher Ausgrenzung

Robert Wolff (Frankfurt am Main): Von den Auschwitzprozessen nach Stammheim – Genese eines neuen Typs des linken Strafverteidigers

Alexandra Jaeger (Bonn): Die Verhinderung von „Linksanwälten“? Die Auswirkungen des Radikalenbeschlusses auf die juristische Ausbildung

Kurt Groenewold (Hamburg): Die Strafverteidigung in Strafprozessen ist ein Menschenrecht

Sektion 2: Der Gerichtssaal als Bühne – Anwälte als Garanten von (Gegen-)Öffentlichkeit

Moderation: Adrian Hänni (Zürich)

Matthias Jahn (Frankfurt am Main) / Sascha Ziemann (Hannover): Der Anwalt als soziale Gegenmacht. Werner Holtfort und die Verteidigung im Oldenburger Buback-Prozess

Kevin Lenk (Münster): Die Advokaten und die Märtyrer. Zur Rolle des Anwaltsumfeldes in der politischen Mobilisierung anlässlich getöteter Gruppenmitglieder aus der RAF und Bewegung 2. Juni

Jonas Brosig (Mannheim): Revolutionäre in Roben? Der „Linksanwalt“ als Teil eines gesellschaftlichen Bedrohungsszenarios der späten 60er und 70er Jahre in der BRD

Sektion 3: (Non) plus ultra: Anwälte als Grenzgänger

Moderation: Sascha Ziemann (Hannover)

Gisela Diewald-Kerkmann (Bielefeld): „Terror-Advokaten“ oder „Garant der Unschuldsvermutung“

Adrian Hänni (Zürich): Bernard Rambert: Der Schweizer „Linksanwalt“ im Lichte der Transnationalität des bundesdeutschen sozialrevolutionären Terrorismus, 1974–1983

Sektion 4: Nachwirkungen und Folgen: Der Einfluss von „Linksanwälten“ auf Justiz und politische Kultur

Moderation: Matthias Jahn (Frankfurt am Main)

Andreas Mehlich: Das Erbe der „Linksanwälte“ im Rechtsstaat – Die Organlehre auf dem Prüfstand

Florian Jessensky (Göttingen): „Wer ist würdig?“ – Ehrengerichtsverfahren gegen „Terroristenanwälte“ in der Bundesrepublik der 70er Jahre

Jörg Arnold (Münster): Gibt es einen „neuen Typ“ des Strafverteidigers in Kontinuität von „Linksanwälten“

Abschlusspodium

Moderation: Robert Wolff (Frankfurt am Main)
Ulrich Falk (Mannheim) / Kurt Groenewold (Hamburg) / Rupert von Plottnitz (Frankfurt am Main)

Anmerkung:
1 Jörg Requate, „Terroristenanwälte“ und Rechtsstaat. Zur Auseinandersetzung um die Rolle der Verteidiger in den Terroristenverfahren der 1970er Jahre, in: ders. / Klaus Weinhauer / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt am Main 2006, S. 271–299, hier S. 274.

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